Ein Jahr danach…

100_0651_Mit dem heutigen Tage ist es nun mehr ein Jahr her, dass uns die Nachricht vom Tode Jean-Claude Racinets ereilte.

Es war eine voraussehbare und dennoch betrübende Nachricht.
Voraussehbar, wenn man die Zeit nach dem verherenden Vorfall zurückdenkt:

„Am 17. September 2008, verunglückte der 79jährige bei einem Kurs in Hamburg, wo er von einem Isländer stürzte. Zwei Monate musste er in einem Hamburger Krankenhaus liegen, ehe er für die Heimreise in die USA transportfähig war; bis zu seinem Tod lag er dort in einem Hospital in Lexington.“

Ein erstes Jahr liegt hinter uns, in dem wir ohne ihn auskommen mussten – die Befürchtungen waren groß – die Zukunft so ungewiss.
Viele von uns haben sich auf den Weg gemacht, durch ihn angeleitet – einen Weg den er vorbereitet hat. Doch wo würde der Weg hinführen, nun da er nicht mehr da war?

Konnte man den Weg von nun an ohne ihn überhaupt weiter beschreiten?

Die Antwort war zunächst schwer zu sehen – und doch war sie so naheliegend.
Den Weg den Racinet uns ebnete war ein Weg den er selbst beschritten hatte – kein Weg mit einem Ende – ein Weg mit einer Richtung und einem Ziel – dem Weg selbst.
Sein Weg war zu Ende, unser hatte erst angefangen – und siehe da – im Geiste war er doch immer anwesend.
Der Weg war eine „Suche“ – die Suche nach der so geliebten Légèreté, die Suche nach einer „besseren“ Welt für die so geliebten Pferde und das geliebte Reiten.
Seine Auffassung, seine Lehre war nie in Stein gemeisselt, so sah er auch die Lehre Bauchers, seine Lehre befand sich im Wandel, ständig bereit auch kritisch betrachtet geändert werden zu können.
Was gestern gültig war, muss morgen nicht zwingend bestand haben und doch sollte man sich mit dem vergangenen befassen, denn andere hatten viele Antworten bereits gefunden, doch sie zu hinterfragen sollte erlaubt, ja sogar erwünscht sein.
Im Gegensatz zu vielen anderen war Jean-Claude Racinet niemand, der rhetorisch geschickt Phrasen zu unumstösslichen Gedankenkonstrukten aufbaute und sich im Dogmatismus ausruhte – er hatte keine einzig wahre oder reine Lehre. Seine Wahrheit lag beim Pferd selbst.
Es gibt viele die heute „á la“ reiten – man spannt sich ein Buch, einen Menschen, soogenannte Ausbilder vor den „Karren“ und giesst deren Lehre in Zement – manchmal ist es einfach, nur unumstösslich „klassisch“ – ohne zuzulassen eine genauere Defintion zu geben, oder eigenes Handeln hinterfragen zu wollen.
Hier stand Racinet nun mit erhobenem Zeigefinger – bereit dem Dogmatismus gegenüberzutreten, denn er nahm die so bewerten Lehren und unterzog sie kritisch der Prüfung.
Beschreitet man seinen vorgegebenen Weg – dann wird klar:
Man kann nicht „á la“ Racinet reiten! Und doch wird es Leute geben, die „Reiten á la Racinet“ als Reitlehre anpreisen!
Er hat uns keine fertige Reitlehre hinterlassen, die von vorne nach hinten „befolgt“ werden soll – es gibt keine „Richtlinien“, keine „Ecole de“.
Kein Buch war wertlos und wieder keines komplett wertvoll – keiner der alten, als auch neueren „Meister“ war unangreiflich.
Nein – seine Hinterlassenschaft ist eine „Grundeinstellung“, seine Form der Suche nach Légèreté ist in erster Linie eine Geisteshaltung.
Er hatte aufgerufen, das Reiten in einem „ganzheitlichen Ansatz“ zu sehen – ja sogar als „ganzheitliche Reitkunst“ (another horsemanship) definiert.
Er war weit vorgedrungen – wahrscheinlich weiter als die meisten es je waren und weiter als es zukünftig jemandem gelingen wird.
Seine Hinterlassenschaft ist nicht komplettiert und gottseidank wird sie es nie sein – aber das Vorhandene gilt es zu wahren.
Wir, die das Glück hatten ihn kennenzulernen,  sind aufgerufen in seinem Sinne den eigenen Weg zu beschreiten und nicht à la Racinet zu reiten, sondern „avec Racinet“ zu reiten – mit ihm im Geiste, denn eins ist klar – er wird nie wirklich fehlen, er ist immer da, sofern man seinen Weg weiter beschreitet.

Chris